23 Juni 2010

Was bleibt

Ich sehe uns an einem sehr frühen Sonntagmorgen über Felder und Wege gehen. Du hast mich überredet, die Natur, die Dir als Kind so nah war, mal ganz kurz nach Sonnenaufgang zu erleben.

Ich sehe mich auf dem Beifahrersitz unseres Autos (damals ging das noch), bei Ferienanfang und in Deiner letzten Arbeitswoche mit Dir zusammen "auf Tour" zu Deinen Kunden fahren. Im Gepäck Comics und meinen Kassettenrekorder.

Ich sehe mich außerdem Dir bei Autofahrten die neuesten Sketche aus der Sesamstraße erzählen, die Du mit wohlwollendem Lachen quittierst.

Ich sehe Dich auf Deinem ehemaligen elterlichen Bauernhof bei einem von unseren Besuchen, mir die Plätze Deiner Kindheit zeigen. Mir wird klar, wie sentimental Dein Blick damals gewesen sein muss.

Ich sehe Dich auf einer Promenade in Timmendorfer Strand, wo Du nicht genug bekommen kannst, alten Herren beim Open-Air-Schach mit übergroßen Figuren zuzuschauen (ohne jemals Schach gelernt zu haben...)

Ich sehe Dich noch spätabends an mein Bett kommen. Mir noch was von Deinem Tag erzählen. "Nur noch bis Papa kommt."

Ich sehe mich auf Deinem Schoß fernsehen. Wie Du mir bei "Aktenzeichen XY" bei den gruseligen Stellen die Augen zuhältst. (Der Ton ohne Bilder war, glaube ich, gruseliger).

Ich sehe wie Du, von Mama gut zugeredet, mich nochmal aus dem Bett kommen lässt um die letzte Folge von "Raumpatrouille" zu schauen...was für einen 8jährigen eigentlich hoffnungslos zu spät lief. Und wie wir uns bei "Die Zwei" vor Lachen biegen.

Ich sehe Dich auf dem Wochenmarkt Entenküken kaufen, die ich dann in den Schulferien in unserem Garten großziehen durfte.

Ich sehe Dich jeden 2.Sonntag der da kam jahrzehntelang zu unserem Heimat-Fußballverein auf den Sportplatz gehen. Du lässt nur kaum anmerken, wie sehr Dich enttäuscht haben muss, dass ich kein Fußballfan wie Du wurde. Immerhin haben wir bei den letzten WMs gefachsimpelt.

Ich sehe wie Du bei Länderspielen ein Zigarillo nach dem anderen rauchst, teils vor Anspannung schräg im Sessel sitzend. Und wie Du mit Freunden beim Endspiel '74 immer wieder aufspringst, es vor Aufregung kaum noch aushältst.
Ich sehe Dich nächtelang auf Deinem Spulen-Tonbandgerät Musik zusammenschneiden um Eure Parties musikalisch perfekt zu gestalten... Etwas, dass ich später eine ganze Zeitlang von Dir übernommen habe.

Ich sehe Dich mit Mama hunderte von Stunden in unseren Garten am Stadtrand stecken. Jahr. um Jahr um Jahr. Von einem ursprünglich trostlosen Randgrundstück zu einer unbezahlbaren Oase. Unermüdlich, immer wieder neue Blumen, Sträucher, Bäume pflanzen. Wie es Dich betrübt, dass der Walnußbaum den Du Dir aus Erinnerung an Deine Kindheit gönnst, nie Früchte trägt.

Ich sehe, wie Du mich mit Mama zu überzeugen versuchst, dass mein Schlaftier-Löwe Leo derselbe ist. (Der Echte musste unbedingt gewaschen werden.)

Ich sehe ein Foto mit Dir an Deinem geliebten Vogelkäfig mit der chinesischen Nachtigall. Musste aufgegeben werden, weil ich als Kleinkind es liebe gegen den Käfig zu klopfen.

Ich sehe wie Du ein nagelneues oranges Kinderfahrrad in unseren Garten bringst, Stunden nachdem ein parkendes Auto mein geliebtes second-hand-Rad ruiniert hat. Ohne Fahrrad kurz nach Ferienanfang, das ging nicht.
Ich sehe mich im Sommerurlaub jeden Morgen an Deiner Hand zur Pferdekoppel unseres Gast-Bauernhofes an der Ostsee gehen. Nach dem Frühstück, mit Brotresten und Zuckerstücken.
Ich sehe unsere Wochenend-Morgen-Frühstücke. Ich und Mama auf der Eckbank und Du mir gegenüber auf dem Küchenstuhl. Wie ich Du mitgespielt hast als ich glaubte, Dich abzulenken und Dein Frühstücks-Ei gegen meine leere Eierschale auzutauschen und du dann scheinbar verblüfft das leere Ei aufklopfst. Ob dazu wirklich jemals James Last "Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung" im Radio spielte? Es hätte jedenfalls perfekt gepasst.

Ich sehe Dich mit Leidenschaft Doppelkopf kloppen, Abende lang mit lieben Freunden.

Ich sehe Dich nur ganz selten weinen, als einer Deiner besten Freunde stirbt und später als es mit Mama auf der Kippe steht und Du selbst wegen Krankenhaus-Aufenthalt ihr nur am Telefon zureden kannst.

Ich sehe Dich am Ende des Flures in eurem Seniorenheim, wie Du bei jedem Abschied kaum Fassung bewahren konntest.



Ich sehe...in einen Umschlag, in dem eine Brille, eine Armbanduhr und ein Ehering liegen.

Ich sehe ungläubig ein metallic-dunkelrotes Gefäß in einer kleinen Erdmulde. Meine Patentante schluchzt: Was bleibt denn noch von uns.

Das.
Das, Papa: Erinnerungen.

Und Dankbarkeit.